Vom Bundesgericht für ungültig erklärt:

Bagatellverfahren und Korrekturfaktor

Seit 2019 sind Bewilligungen von Umbauten von Mobilfunkantennen im Bagatellverfahren (ohne öffentliche Publikation und Einsprachemöglichkeit der Bevölkerung) Ursache tausender Einsprachen.

Als Bagatelländerung galt bisher Folgendes:

  • Umbau der Antenne von konventioneller Antenne auf adaptive Antenne oder Antenne mit einem anderen Antennendiagramm (Änderung der Senderichtung), mit und ohne Veränderung des Volumens.
  • Anwendung des Korrekturfaktors auf einer adaptiven Antenne.
  • In zahlreichen Fällen bauten die Betreiber die Antenne zuerst ohne Baubewilligung auf eine adaptive Antenne um und wandten ein Jahr später – erneut ohne Baubewilligung – den Korrekturfaktor an.

Dem setzt das Bundesgericht nun mit vier Entscheiden ein Ende:

Entscheid "Wil" 1C_506/2023 vom 23.04.2024

Zusammenfassend:
Das Aufschalten des Korrekturfaktors ist baubewilligungspflichtig. Die Grenzwertüberschreitung durch den Korrekturfaktor und die Besorgnis der Bevölkerung betreffend den Spitzenwerten werden anerkannt. Es wird festgehalten, dass die Anwendung des Korrekturfaktors den Wegfall der vorsorglichen Emissionsbegrenzung bedeutet.

Bundesgerichtsurteil 1C_506/2023

„4.2. […] Die Anwendung des Korrekturfaktors auf bisher nach dem „Worst-Case-Szenario“ bewilligte adaptive Antennen führt zu Leistungsspitzen, die deutlich (je nach Korrekturfaktor bis zu 10 mal) über der bisherigen maximalen Sendeleistung liegen können.
Die bewilligte Sendeleistung muss nur noch im Mittelwert über 6 Minuten eingehalten werden. Dies hat zur Folge, dass die für ein OMEN berechnete elektrische Feldstärke kurzfristig um maximal einen Faktor 3 übertroffen werden kann. Diese faktische Änderung des Betriebs begründet regelmässig ein Interesse der Anwohnerschaft und der Öffentlichkeit an einer vorgängigen Kontrolle, ob die Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind (so auch VG Zürich, Urteile VB.2021.00740 und 00743 vom 27. Oktober 2022 E. 3.3).
Dies gilt auch dann, wenn die Strahlungsbelastung von adaptiven Antennen in der Umgebung der Anlage insgesamt tiefer liegt als bei konventionellen Antennen, da gerade die Strahlungsspitzen in breiten Teilen der Bevölkerung Besorgnis erregen. […] Die Anwendung des Korrekturfaktors bedeutet insofern den Wegfall (bzw. die Abschwächung) einer bisher geltenden, vorsorglichen Emissionsbegrenzung („Worst-Case-Szenario“) im Sinne von Art. 11 Abs. 2 USG (vgl. Urteil 1C_101/2021 vom 13. Juli 2023 E. 3.5 mit Hinweisen). Dies muss von den zuständigen Behörden und Gerichten überprüft werden können.

4.3. Die Durchführung eines ordentlichen Baubewilligungsverfahrens erscheint geboten, um das rechtliche Gehör und den Rechtsschutz der betroffenen Personen in zumutbarer Weise zu gewährleisten (Art. 29 und 29a BV).
Die in Ziff. 63 Abs. 2 und 3 Anh. 1 NISV vom Bundesrat festgelegten Korrekturwerte können nicht unmittelbar angefochten werden (vgl. Art. 189 Abs. 4 BV), und eine vorfrageweise Überprüfung war bislang nicht möglich: Die Installation der adaptiven Antennen nach dem „Worst-Case“-Szenario erfolgte i.d.R. im sog. Bagatellverfahren, ohne Einsprachemöglichkeit der Anwohnerschaft. Wo ein Baubewilligungsverfahren stattfand, wurde die Anwendung der Korrekturfaktoren nicht geprüft und den betroffenen Personen versichert, sie könnten ihre diesbezüglichen Einwände noch bei der Umstellung des Betriebs mit Korrekturfaktor geltend machen (vgl. die oben E. 4 zitierten Urteile).

Zwar können betroffene Personen eine behördliche Überprüfung von Immissionen im Einzelfall auch ohne Baubewilligungsverfahren verlangen (ZUFFEREY/SEYDOUX, a.a.O., Ziff. 4.1.3.3 S. 39; vgl. Urteil 1A.202/2006 vom 10. September 2007, in: URP 2008 621, E. 5.3-5.4 und BGE 140 II 33 zu Lichtimmissionen von nicht baubewilligungspflichtiger Weihnachtsbeleuchtung). Dies setzt jedoch voraus, dass die Betroffenen Kenntnis von den Immissionen bzw. ihrer Änderung haben. Dies ist ohne Publikation eines Baugesuchs nicht gewährleistet, weil nichtionisierende Strahlung im Allgemeinen nicht wahrnehmbar ist, im Gegensatz z.B. zu Lichtimmissionen.
Entscheid "Sarnen" 1C_414/2022 vom 29.08.2024

Zusammenfassend:
Eine öffentliche Publikation und Einsprachemöglichkeit ist zwingend um das rechtliche Gehör und den Rechtsschutz der betroffenen Personen zu gewährleisten. Besonders interessant: den Empfehlungen der BPUK kommen weder Gesetzeskraft zu, noch sind sie für die Gerichte rechtlich verbindlich.

Die grosse Überraschung: Unbewilligte Antennen oder Antennenteile müssen ausgeschaltet werden!

Bundesgerichtsurteil 1C_414/2022

„4.3.1. Gemäss Vernehmlassung des BAFU hat es auf die Einhaltung der Grenzwerte der NISV für sich betrachtet keinen Einfluss, ob eine Antenne konventionell oder adaptiv betrieben wird oder über welche Mobilfunktechnologie (3G, 4G oder 5G) die Antenne sendet. Hingegen weisen adaptive Antennen in der Regel ein anderes Antennendiagramm auf als konventionelle Antennen. So weisen die neu eingesetzten Antennen nach den unbestritten gebliebenen Ausführungen des BAFU einen grösseren Öffnungswinkel des vertikalen Antennendiagramms auf als die bisherigen Antennen. Damit kommt es – selbst wenn die bewilligte Sendeleistung gleich bliebe – zu einer anderen räumlichen Verteilung der Strahlung. Dies kann zur Folge haben, dass die Strahlung an anderen Orten als den berechneten zugenommen hat und diese Orte eventuell zu den drei am höchsten belasteten OMEN zu zählen wären. Dies wiederum begründet regelmässig ein Interesse der Anwohnerschaft und der Öffentlichkeit an einer vorgängigen Kontrolle, ob die Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind.
Die Durchführung eines Baubewilligungsverfahrens erscheint demnach geboten, um das rechtliche Gehör und den Rechtsschutz der betroffenen Personen in zumutbarer Weise zu gewährleisten (Art. 29 und 29a BV).
4.3.2. Die Vorinstanz erachtete vorliegend die Durchführung eines Bagatellverfahrens als rechtskonform. Dabei handle es sich um eine Befreiung von der Baubewilligungspflicht und in diesem Sinne um eine Anwendungsauslegung von Art. 26 der Verordnung des Kantons Obwalden vom 7. Juli 1994 zum Baugesetz (BauV/OW; GDB 710.11; mit der Marginalie „Bewilligungsfreie Bauvorhaben“). Danach würden Bauten und deren Änderung von der Baubewilligungspflicht befreit, wenn sie nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht mit solchen räumlichen Folgen verbunden seien, dass ein Interesse der Öffentlichkeit oder der Nachbarschaft an einer vorgängigen Kontrolle bestehe.
Nachdem entsprechende räumliche Folgen vorliegend aber zu bejahen sind (vgl. oben E. 4.3.1), hätte kein Bagatellverfahren im Sinne von Art. 26 BauV/OW durchgeführt bzw. hätte auf die Durchführung eines Baubewilligungsverfahrens nicht verzichtet werden dürfen. Die Vorinstanz übersieht, dass die Öffentlichkeit und die Nachbarschaft regelmässig auch bei einer Veränderung der räumlichen Verteilung der Strahlung ein Interesse an einer vorgängigen Kontrolle haben können. Diese kann im Übrigen – namentlich auch an anderen oder neuen als den bisherigen Orten – ebenfalls zu einer Erhöhung der elektrischen Feldstärke führen. Der Verweis auf die Vorgehensweise bei der Aufrüstung auf 4G verfängt deshalb nicht. Die Beschwerdegegnerin hält weiter fest, das Bagatellverfahren sei keine umfassende Bewilligungsbefreiung; die Mobilfunkbetreiberinnen hätten ein angepasstes Standortdatenblatt einzureichen, das kontrolliert und erst anschliessend freigegeben werde. Dies ändert jedoch nichts daran, dass den betroffenen Personen mit diesem Vorgehen weder das rechtliche Gehör noch der Rechtsschutz in zumutbarer Weise gewährt wird.
4.3.3. Aus den Empfehlungen der BPUK, auf die sich sowohl die Vorinstanz als auch die Beschwerdegegnerin stützen, können diese vorliegend nichts zu ihren Gunsten ableiten. Diesen Empfehlungen kommt weder Gesetzeskraft zu noch sind sie für die Gerichte rechtlich verbindlich. Sie richten sich in erster Linie an die mit dem Vollzug betrauten Verwaltungsbehörden und bezwecken eine einheitliche und rechtsgleiche Verwaltungspraxis. Ihre Anwendung im Einzelfall ist insofern nicht zu beanstanden, als dabei der vorgegebene gesetzes- und verordnungsrechtliche Rahmen eingehalten wird (vgl. BGE 138 II 331 E. 4.1; 119 Ib 33 E. 3c).
Soweit gemäss den Empfehlungen der BPUK konventionelle Antennen durch adaptive Antennen mit einem anderen Antennendiagramm und anderer räumlicher Verteilung der Strahlung ersetzt werden dürfen, ohne ein Baubewilligungsverfahren durchzuführen, kann den Empfehlungen nach den obigen Darlegungen nicht gefolgt werden. Im Übrigen hielt die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid selber fest, dass es die BPUK gemäss ihren Empfehlungen vom 1. April 2022 nunmehr den Kantonen und Gemeinden überlasse, inwiefern sie die Kriterien zur Anwendung des Bagatellverfahrens auch auf Änderungen mit adaptiven Antennen anwenden wollten.
4.4. Nach diesen Ausführungen hätte aufgrund des Ersatzes der konventionellen Antennen durch adaptive Antennen mit einem anderen Antennendiagramm ein Baubewilligungsverfahren durchgeführt werden müssen. Die unterschiedliche räumliche Verteilung der Strahlung und damit verbundene mögliche Erhöhung der elektrischen Feldstärke an OMEN begründet regelmässig ein Interesse der Nachbarschaft und der Öffentlichkeit an einer vorgängigen Kontrolle, ob die Bewilligungsvoraussetzungen erfüllt sind. Den betroffenen Personen ist das rechtliche Gehör und der Rechtsschutz in zumutbarer Weise zu gewährleisten.
5. 
Nach diesen Erwägungen ist die Beschwerde gutzuheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Obwalden vom 8. Juni 2022 aufzuheben. Die Sache ist an den Einwohnergemeinderat Sarnen zurückzuweisen zur Durchführung eines Baubewilligungsverfahrens. Die Beschwerdegegnerin hat den Betrieb der vorliegend umstrittenen Antennen, deren Antennendiagramm vom ursprünglich baubewilligten abweicht, vorerst antragsgemäss einzustellen.“
Entscheid "Winterthur" 1C_332/2023 vom 11.10.2024

Zusammenfassend:
Folgender Fall handelt um mehrere Antennen bei denen unklar war, ob und inwiefern Bagatelländerungsbewilligungen für die streitigen Mobilfunkantennenstandorte erteilt worden sind, da das Verfahren ohne Einbezug der Mobilfunkbetreiberinnen lief. Der Beschwerdeführer bekam Recht, weshalb nachträglich geprüft werden muss, ob ein Baugesuch für die Antennenveränderungen notwendig gewesen wäre. Es zeigt erneut: Das rechtliche Gehör betroffener Personen muss gewährleistet sein.

Bundesgerichtsurteil 1C_332/2023

„5. Nach dem Gesagten ist dem Verwaltungsgericht zuzustimmen, dass die technologische Umstellung auf 5G allein nicht baubewilligungspflichtig ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Stadt Winterthur in der Vergangenheit auch die Installation gewisser adaptiver Antennen für 5G im Bagatelländerungsverfahren bewilligt hat, in Übereinstimmung mit den damaligen Empfehlungen der BPUK. Derartige Änderungen sind grundsätzlich baubewilligungspflichtig. 

Unklar ist jedoch, ob und inwiefern derartige Bagatelländerungsbewilligungen für die vorliegend streitigen Mobilfunkantennenstandorte erteilt worden sind. Es fehlen vorinstanzliche Feststellungen zu dieser Frage. Der Beschwerdeführer hat vor Bundesgericht Standortdatenblätter für drei der sechs streitigen Mobilfunkanlagen eingereicht; aus diesen geht jedoch nicht der vorherige, ordentlich bewilligte Zustand und damit das Ausmass der Änderung hervor. Hinzu kommt, dass die Betreiberinnen der betroffenen Mobilfunkanlagen bisher nicht am Verfahren beteiligt worden sind. Diesen muss jedoch das rechtliche Gehör gewährt werden, bevor über eine allfällige Verpflichtung zur Einleitung eines nachträglichen Baubewilligungsverfahrens entschieden wird; erst recht gilt dies für die weitergehenden Anträge des Beschwerdeführers auf Abschaltung bzw. Demontage von nicht ordentlich bewilligten Anlageteilen.

Es rechtfertigt sich daher, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und die Sache an den Bauausschuss der Stadt Winterthur zurückzuweisen, um erneut über die Anträge des Beschwerdeführers zu entscheiden, diesmal unter Mitwirkung der betroffenen Mobilfunkbetreiberinnen. Der Bauausschuss wird prüfen müssen, ob an den streitigen Standorten die Installation adaptiver Antennen im Bagatelländerungsverfahren bewilligt worden ist und welche Rechtsfolgen dies nach sich zieht[…]“

Entscheid "Winterthur" 1C_310/2024 vom 18. 10. 2024

Zusammenfassend:
Im Baugesuch müssen der
Korrekturfaktor und die zu erwartende Strahlung deklariert werden. Die adaptive Antenne auch ohne diese Angaben in Betrieb zu nehmen ist unzulässig.

Bundesgerichtsurteil 1C_310/2024

„2.2. Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin kann es für die Bewilligung der Anwendung von Korrekturfaktoren indes nicht genügen, wenn im Standortdatenblatt für die Mobilfunk-Basisstation einzig erwähnt wird, dass es unter den zu bewilligenden Antennen auch solche mit adaptivem Betrieb hat und dabei die Anzahl Sub-Arrays genannt wird (vgl. dagegen Bundesamt für Umwelt BAFU, Häufig gestellte Fragen zur Vollzugshilfe für adaptive Antennen vom 14. Juni 2021, inkl. Ergänzungen vom 31. August 2021, S. 5). Die Anwendung der Korrekturfaktoren auf die adaptiven Antennen setzt vielmehr voraus, dass das Standortdatenblatt, aufgrund dessen die Baubewilligung erteilt werden soll, die konkrete Anwendung der Korrekturfaktoren darlegt.“

Abbildung 1: Unzulässige Bewilligungen und Umbauten an Mobilfunkantennen
Quelle: www.schutz-vor-strahlung.ch

Auch die jüngsten Empfehlungen der BPUK sind überholt

Schutz vor Strahlung berichtet in ihrer Medienmitteilung vom 19.10.2024:

„Nach dem Entscheid im Fall Wil SG im April 2024 versandte die BPUK am 11. Juni dieses Jahres eine korrigierte Empfehlung an ihre Mitglieder, wo unter anderem dazu aufgefordert wird, «über die zuständigen Behörden den Mobilfunkbetreiberinnen ein Schreiben zukommen zu lassen, das sie auffordert, innert 6 Monaten die Baugesuche einzureichen oder den Korrekturfaktor abzuschalten.»
Die Mobilfunkbetreiber dürften gemäss der BPUK also ihre Antenne mit bis zu zehn Mal höherer Leistung als bewilligt weiterlaufen lassen, solange sie pünktlich ein nachträgliches Baugesuch einreichen.

Auch diese BPUK-Empfehlung ist nach dem Entscheid Sarnen nicht mehr gültig: Alle Bestandteile und allenfalls der Korrekturfaktor, die widerrechtlich in Betrieb genommen wurden, müssen in jedem Fall abgeschaltet werden.
In einigen Fällen muss also die gesamte Antenne vom Netz genommen werden.“ 

Weitere Empfehlung: Leitverfahren durchführen und übrige Klagen sistieren

Als weitere Empfehlung spricht die BPUK aus „ein Leitverfahren durchzuführen und die übrigen Klagen zu sistieren, bis das Leitverfahren abgeschlossen ist“. Das scheint ein vernünftiger Ansatz. Sind doch die Flut an Einsprachen und das Rechtschaos für Behörden, Antennen-Anwohner und Gerichte untragbar geworden.

Betroffene Antennen in Bubikon-Wolfhausen

Auf unserem Gemeindegebiet sind folgende Antennen im Bagatellverfahren bewilligt worden:

  • Wolfhausen, Lochrütistrasse 4a, Sunrise
  • Wolfhausen, Oberwolfhauserstrasse 9, Swisscom
  • Bubikon, Rosengartenstrasse 1, Swisscom

Die IG Bubik-ohne 5G wird sich diesbezüglich mit der Baubehörde in Verbindung setzen.